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Novembergedanken

Novembergedanken

Ende des Kirchenjahres. Zeit im Zeichen der Vergänglichkeit - und, vor allem, unseres Umgangs mit Begrenztheit und Tod. Verdrängen wir die damit verbundenen Gedanken und Gefühle? Lassen wir uns in unserem geschäftigen, zielgerichteten Alltag noch stören von Tod und vor allem auch von Trauer?

Wer an Allerheiligen, Allerseelen oder am Totensonntag, wer an den klassischen November-Gedenktagen auf den Friedhof geht, den überkommen Zweifel. Vor den Gräbern stehen viel weniger Menschen als früher; immer mehr Gräber sind anonym.

Noch zu Zeiten meiner Urgroßeltern schien die Zeit beim Tod eines Angehörigen stillzustehen. Uhren wurden aus dem Zimmer getragen oder angehalten.  Die Totenehrung und das Totengedenken bestimmten das Leben. Und heute....werden die Toten oft anonym und möglichst kostengünstig beigesetzt. Und die Lebenden beschweren sich, wenn sie sich für eine Beerdigung freinehmen müssen. Am besten „Bestatterando.de“ und möglichst noch „McUrne“ dazu...  

Ist die Anonymisierung des Todes, die ja häufig auch dem Wunsch der Verstorbenen entspricht, Ausdruck der Sorge, dass sie stören und den Hinterbliebenen zur Last fallen könnten?

In vielen Orten gibt es inzwischen keine Beerdigungen mehr an Samstagen; das sei weder personal- noch kundenorientiert. 

Die Totenehrung wird kleiner, weil sie den Ablauf des Alltags, Urlaubspläne oder Arbeitszeiten nicht mehr stören darf! Friedhöfe sind nicht mehr so sichtbar, seitdem sie aus der Mitte der Städte verschwunden sind. Die alten Friedhöfe sind zu Freiluftmuseen geworden. Die neueren Friedhöfe liegen an den Peripherien, außerhalb des direkten Blickfeldes. Und die ganz neuen Friedhöfe sind als solche kaum noch erkennbar: Es handelt sich um Friedwälder; an den Menschen, der dort sein Wurzelgrab hat, erinnert, wenn überhaupt, ein Holztäfelchen am Baum. Oder einer Info-Tafel.

"Unsere Gesellschaft" verdränge den Tod, heißt es. Ja, das Sterben der alten Friedhöfe und Rituale sagt etwas über das Sterben der festgefügten Gesellschaft aus - und schwächer werdende Bindungen an Religion! Es sagt auch etwas über das Diktat des Ökonomischen über das Leben und den Tod: Die alten Friedhöfe wurden stillgelegt, weil die Kommunen Personal und Pflege vieler dezentraler Friedhöfe nicht mehr finanzieren konnten.

Viele Menschen leben heute als Single, viele in Patchwork-Konstellationen, viele mobil und unstet. Das fördert den Trend zur anonymen Bestattung. Aber auch so ist der Ort der Toten ein Spiegel der Gesellschaft.

"Die" Gesellschaft gibt es nicht mehr; deswegen gibt es auch nicht mehr "die" Bestattung. Es gibt die Suche nach neuen Formen und Ritualen - mit gegenläufigen Tendenzen; Anonymisierung und Individualisierung. Das ist die (vorläufige?) Antwort von uns Menschen im 21. Jahrhunderts auf die Frage, wieviel und welchen Raum wir dem Tod und der Trauer geben wollen. Oder wie meine Nichte zu sagen pflegte: „Das is’ ´n jedem seine Sache selbst.“

Rolf Dietze